Post Scriptum

»Man sagt, daß er verunglückt wär’ beim letzten Flug. Jedoch, das stimmt nur ungefähr: Er kam nur nicht zurück.« (aus Flieg, flieg in die Sonne; 1992; Text: Michael Kunze)

Radikal & Emotional

Im Sommer 2023 habe ich verschiedene Bücher gelesen, die nach seinem Ableben andere über Udo Jürgens bzw. über sich und Udo Jürgens geschrieben haben.

Recht pointiert ausgefallen sind die Betrachtungen von Andreas Maier in »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«. In manchen Textpassagen erkenne ich mich wieder, anderes hat mir rückschauend die Augen geöffnet: Vor allem das von ihm so genannte »Konzept der radikalen Emotionalität«, welches UJ lebte, trifft meine Faszination für den Musiker mitten ins Herz. Wer sich an seine eigenen Besuche von Udo-Jürgens-Konzerten erinnert, wird sicher feststellen, dass es genau das war, was ihn ausmachte: radikal emotional. Ein Beispiel unter vielen, das der Nachwelt (leider nur in Ausschnitten) erhalten geblieben ist, aber eines der herausragenderen, ist die »Open Air Symphony« aus dem schweizerischen Windisch anno 1992 (zu sehen bei YouTube).

Kein Musiker der sogenannten Unterhaltungsmusik kommt da an UJ heran. Und auch unter den Künstlern der sogenannten ernsten Musik wird man einige Zeit suchen müssen, um vergleichbar radikal emotionale Musiker zu finden, und trifft dann sicherlich auf Leonard Bernstein. Wenig überraschend fasziniert auch sein Musizieren mich in besonderer Weise.

Eine Würdigung zum 30. September 2022

Bei Udo Jürgens schlug die Uhr schon 1982 fünf Minuten vor zwölf — Johannes Gaisfuss' Würdigung des Chansonniers und Entertainers zu dessen 88. Geburtstag in der Wiener Zeitung:

»Udo Jürgens – ein ›Vorausdenker‹

Am Freitag hätte der Sänger seinen 88. Geburtstag gefeiert. Und heute sind seine Texte aktuell wie nie zuvor.

Auch, wenn es aus heutiger Sicht schwer vorstellbar erscheint: Es gab schon vor Greta Thunberg Menschen, die sich gegen das tatenlose Zusehen in Bezug auf den Klimawandel stark gemacht haben. So auch Udo Jürgens, der schon vor über 50 Jahren Missstände als diese zu benennen wusste.

Zeitlebens hatte Udo Jürgens den Ruf, ein Schlagersänger gewesen zu sein. Ein Ruf, der aber so nicht ganz korrekt war. Denn betrachtet man die aktuelle Schlagerszene, so ist festzustellen, dass sie hauptsächlich eine heile Welt vermittelt, die es obendrein auch nicht darauf anlegt, Kritik zu üben – außer vielleicht an einem Ex-Partner. Anders hingegen die tiefsinnige Musik des Österreichers, der stattdessen globale wie regionale Probleme angeprangert hat. Viel zutreffender ist da schon sein Image als ›ernster Entertainer‹ – nicht nur, was die Songs betrifft. Denn welchem Schlager- oder Popstar würde heute ein einfaches Klavier und ein schwarzer Anzug genügen? Nein, heute müsste es schon mehr sein. Da braucht es eine fulminante Show aus Tänzern, Flammenwerfern und einem ausgefallenen Outfit. Und trotzdem füllte Jürgens Hallen und begeisterte ein großes Publikum.

Kritik mit Augenzwinkern und ernstem Blick

›Starthilfe‹ dafür war sicherlich der Gewinn des Eurovision Song Contests 1966 (der damals noch unter dem Namen ›Grand Prix de la Chanson‹ bekannt war) mit ›Merci Cherie‹ – einem Liebeslied. Aber nicht nur diese trugen zu Jürgens‘ europaweitem Erfolg bei. Denn seine (sozial-)kritischen Songs waren nicht minder beliebt. Vielleicht sogar ein Stück weit beliebter als die Chansons des gebürtigen Kärntners. Immerhin hatte er den Mut, Missstände anzusprechen. Mal mit einem Augenzwinkern, wie in ›Ein ehrenwertes Haus‹, mal mit einem besorgten Gesichtsausdruck. So sah Udo Jürgens 1981 zumindest den Wald, ›auf dem man jetzt einen Flugplatz baut‹. Und er sah ›einen Strand, der ganz schwarz war vor Öl und Teer‹. Zweifelsohne Gründe genug, um zu warnen, dass es so nicht weitergehen kann.

Als er damals, vor über 40 Jahren, auf die Uhr sah, war es schon ›fünf Minuten vor Zwölf‹. Und heute? Die Herausforderungen, die Udo Jürgens in dem Weckruf besingt, sind dieselben geblieben. Es wirkt aus heutiger Sicht fast prophetisch, wenn man bedenkt, dass Szenarien wie er sie hier ausmalte, heute aktueller sind denn je - und zwar fast auf den angewendeten Wortlaut genau. Und dennoch gibt – oder gab – es aus seiner Sicht Hoffnung, immerhin sah Jürgens auch den ›einsamen See‹, der ›wie ein Spiegel so hell und klar‹ war. Und lag richtig damit. Die Botschaft hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Aber sie ist eindringlicher geworden. Noch gibt es die ›einsamen‹ und ›klaren‹ Seen. Die Frage ist nur, wie lange noch? Denn viele dieser Gewässer gibt es heutzutage sicher nicht mehr.

2008, sechs Jahre vor seinem Tod, wird Udo Jürgens in ›Tanz auf dem Vulkan (Freut euch des Lebens)‹ nochmals deutlicher: ›Der Urwald macht schlapp, die Gletscher hau’n ab‹, singt er fast im selben Wortlaut, wie es heute von Greta Thunberg gepredigt wird. ›D’rum freut euch des Lebens, solang‘ man das noch kann‹, ist sein Appell zum Handeln. Hier offenbart sich eine besondere Raffinesse des ‹Chansonniers‹, wie Udo Jürgens auch genannt wurde. Denn im Gegensatz zu vielen anderen fand der Kärntner zwar immer treffende Worte dafür, um das Weltgeschehen zu kommentieren, aber anstatt uns zu belehren, wie wir es besser machen müssten, lag seine Kunst darin, dass es nie eine solche war. Viel eher war es eine gut gemeinte Warnung, die zugleich unterhalten, aber seine Zuhörerschaft auch gebildet und nachdenklich gemacht hat.

Keine Belehrung, dafür Unterhaltung

›Das ist letztlich das Udo-Jürgens-Gefühl: Sozialkritik, Jacques Brel und große Liebes- und Seelenbilder auf der einen Seite. Und auf der anderen wird das kombiniert mit der Möglichkeit zum Mitschunkeln. Das hat ihn als Künstler ausgezeichnet‹, sagte Philipp Stölzl, Regisseur der 2019 erschienenen Filmversion des Musicals ›Ich war noch niemals in New York‹. Irgendwie witzig, wenn man bedenkt, dass das nachdenkliche ›Griechischer Wein‹ von Udo Jürgens eigentlich als Liebeslied gedacht war. Zu gut, dass ihm Michael Kunze noch den heute so bekannten Text lieferte. Und obwohl das Lied eine kritisch-nachdenklich machende Botschaft hat, wird trotzdem gerne auf Feiern zu dem Evergreen mitgeschunkelt.
Philosophisches Denken als Grundlage

So gruselig es auch scheinen mag, man könnte meinen, Udo Jürgens hat in gefühlsmäßig jedem zweiten seiner Lieder eine Botschaft für 2022 gepackt. So sang er nicht nur über die Klimakrise oder die Gesellschaft. Auch der Weltfrieden war in seinen Songs stets ein präsentes Thema. Jürgens wünsche sich einen ›Platz an der Sonne, wo alle Menschen sich versteh’n‹, wie er durch das gleichnamige Lied verlautbaren ließ. Eine zentrale Frage stellt der Superstar in ‹Tausend Jahre sind ein Tag‹, in dem er wissen will ›wann macht ihr die Waffen scharf?‹. Und wie schnell das gehen kann, hat man durch den Krieg in der Ukraine ja deutlich zu sehen bekommen.

Aber Udo Jürgens war nicht nur einer, der mit seiner Musik Kritik übte und Missstände deutlich machte. Nein, er war auch ein Mann, der mit seinen Songs Trost in dunklen Zeiten spendete. Für Tagen wie diese, in denen Wörter wie Pandemie, Krieg, Inflation und Klimawandel in unserem Sprachgebrauch regieren, erscheint ›Immer wieder geht die Sonne auf‹ gerade nur so geschaffen zu sein. ›Denn Dunkelheit für immer‹ – wie der Musiker wusste – ›gibt es nicht‹. Man kann nur hoffen, dass er mit dieser Behauptung Recht behält. ›In meinen Liedern findet sich nur eine Kurzform des philosophischen Denkens‹, resümierte Udo Jürgens einmal. Möchte er ›einen Gedanken vertiefen‹ müsse er ›darüber schreiben.‹ So erklärt sich dann auch, wie Hits wie ›Aber bitte mit Sahne‹, ›Der Mann ist das Problem‹, ›Lieb Vaterland‹ und weitere entstanden sind.

Fragt sich bloß, was Udo Jürgens zum aktuellen Weltgeschehen zu sagen hätte, wenn er ein bisschen länger gelebt hätte? Vermutlich weise Worte, aber wenig, dass wir nicht schon aus seinen Songs kennen würden, hat er doch schon alle Probleme so umfassend besungen. Eventuell hätte er der offensichtlich verlorenen Gesellschaft nur mehr eines gesagt, da alles andere sowieso sinnlos erscheint: ›Immer wieder geht die Sonne auf, denn Dunkelheit für immer gibt es nicht‹. Und wir können daraus entweder die Lehren ziehen, oder auf bessere Zeiten hoffen.«