2012 · Der ganz normale Wahnsinn (im Februar in Oberhausen)
Das ist sie also: Meine 16. und seine 24. Tournee ··· Impressionen vom 7. Februar 2012
Vertrautes und Gewohntes hilft einem ja sehr durch's Leben. Aber muß jedes Udo-Jürgens-Konzert in Oberhausen von sibirischen Temperaturen begleitet sein? Offenbar. Umso glücklicher ist man dann, befreit von warmer Über- und Unterwäsche, in der wohltemperierten "Arena" neben vielen bekannten Gesichtern und noch viel mehr ebenso textsicheren Zuschauern Platz nehmen zu dürfen. Davon haben etwa 8.000 den Weg hierher gefunden – alle Plätze, bis auf die allerobersten Sitzreihen: belegt. Natürlich trifft man auch einige gute Freunde und Freundinnen wieder, die man sonst nur virtuell bspw. bei udofan.com trifft. Alles in allem also: Sehr familiär.
So steht trotz schwerer Erkältung des Verfassers einem gelungenen Abend nichts mehr im Wege – auch die Platzwahl hat sich als sehr gut erwiesen, wenn auch ein Bühnensturm von dort aus nicht möglich war. (Muß ja nicht jedes mal sein und pflichtbewußtes Personal soll man nicht überfordern …)
Der Tourneestart verlief für Udo Jürgens ziemlich unglücklich – nach drei Vorkonzerten mußten vier Konzerte wegen grippalem Infekt abgesagt werden. So war dann Premiere zwei Tage zuvor in Köln (auch in einer "Arena"), der Vortag spielfrei und nun: Oberhausen. Praktisch das zweite reguläre Tourkonzert. Und das war gut so.
Udo Jürgens merkte man wohl die Erkrankung noch etwas an, aber das tat seinen Sangeskünsten, seinem Klavierspiel und seinem Spaß am "Musikant" sein keinen Abbruch. Gut gelaunt moderierte er sich durch den Abend, sparte nicht mit Selbstironie ("Wir spielen in der ersten Hälfte nur neue Lieder, die alten Hits [deutet je anderthalb Takte "Aber bitte mit Sahne" und "Ich war noch niemals in New York" an] kommen erst später, damit Sie nach der Pause alle wiederkommen!") und Lob für die Band ("Mit Pepe Lienhard bin ich jetzt schon 36 Jahre zusammen; Ehen halten nicht so lange. Falls jemand dafür eine Erklärung hat, schreiben Sie mir bitte.").
Die hat insgesamt wieder sehr überzeugt – auch alles bekannte Gesichter, aber neue Streicher und Sänger. Instrumentalsoli der Band hatten wir bei früheren Tourneen schon mehr, dafür konnte sich diesmal die 1. Violinistin ("aus Moskau") profilieren; meine Nachbarin meinte "wunderschön" - und meinte damit ihr Violinspiel. Dem sei nicht widersprochen, obgleich zum Star der Klassikszene, der sie laut Udo Jürgens werden könne, meines Erachtens noch einiges fehlt und ein solches Engagement vielleicht auch nicht die beste Voraussetzung ist (aber wer mich kennt, weiß, daß meine Ansprüche in dieser Hinsicht nicht überschätzt werden können).
Besondere Erwähnung genoß auch Francis Coletta, dessen Mitwirkung Udo Jürgens immer besonders freut und der auch ein paar Soli zum gelungenen Abend beisteuern konnte.
Warum gelingt die Abmischung der Band oft so unbefriedigend, und warum muß der auf den CDs völlig deplatziert verewigte Echoeffekt der Gesangsstimme jetzt auch im Konzertsaal eingesetzt werden? Da macht die Technik hinter den Mikrofonen etwas schlechter, was vor den Mikrofonen noch viel besser ist.
Wer Udo-Jürgens-Tourneen kennt, für den ist es unnötig zu erwähnen, daß kein Lied so gespielt wurde, wie man es von Platte oder CD kennt. Das ist das Schöne an seinen Konzerten, daß alles immer noch mal neu arrangiert wird (unübertroffen allerdings bleiben für mich bislang Thorsten Maaß' Arrangements aus 2006 / "Jetzt oder nie").
Programmfolge
Damit wäre das erste Spannungsmoment jeder Tournee erwähnt: Die Live-Arrangements. Das zweite ist die Titelauswahl. Dazu später mehr. Das dritte: Die Eröffnungsnummer.
Es gibt wenige wirklich gut für ein Opening geeignete Lieder unter den etwa tausend, aber das eine, das allen anderen in jedem Zweifelsfall vorzuziehen wäre, gab es diesmal – man möchte sagen: endlich! Seit 1978 das erste Mal. Als ob Wünsche erhört worden wären.
Hier also die Titel in ihrer Reihenfolge aus dem ersten Teil (75 Minuten Spielzeit):
Lieder der ersten Hälfte
- Noch drei Minuten
("... und dafür lebe ich”) - Schenk mir einen Traum
- Dafür brauch ich Dich
("Wir brauchen einander!”) - Gegen den Wind
("manches geht besser mit Gegenwind als mit Rückenwind”) - Die Frau, die ich nie traf
- Du bist durchschaut
- Glut und Eis
- Fly with me / Flieg mit mir
- Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient
- Der ganz normale Wahnsinn
- Der Mann mit dem Fagott (gleichnamiges Lied und Filmszenen, Valse Musette und weitere orchestrale Filmmusik)
Meine Eindrücke
Ich fand es mutig, eine knappe Viertelstunde Filmausschnitte (kreuz und quer durch 100 Jahre Familiengeschichte) ans Ende der ersten Hälfte, direkt vor die Pause zu setzen. Seit "Wort" bei der udo'80-Tournee hatten wir dann auch mal wieder ein Halbplayback bei der Live-Tournee (Gesang, Klavier, Geige – live; Orchester – ...). Nun ja. Das hätte mit etwas gutem Willen die mit vier Streichern und Sängern ergänzte Pepe-Lienhard-Band notfalls auch ganz selbst hinbekommen. Schon bei der Anmoderation gab es kräftigen Applaus, am Schluß dann sogar standing ovations – vor der Pause. Die dauerte wie immer 30 Minuten.
Dann kam der zweite Teil. Die (An-) Spannung des ersten Teils schien nun ganz verflogen, Udo Jürgens steigerte das hohe Niveau zusehends. Besonders schön, und auch eine Tourpremiere, die Ergänzung der fagottalen Familiengeschichte um eine Hommage an den malenden Bruder. Hier sei einmal zu erwähnen, daß die Fortschritte der Projektionstechnik nunmehr zu gestochen scharfen, großformatigen Leinwandbildern hinter dem Orchester führten (welches daher in anderer Aufstellung saß, damit man im Saal mehr sehen konnte), und wovon durch Nahaufnahmen, Filmeinblendungen und andere Effekte stilsicher das Konzerterlebnis bereichert wurde. Man muß nicht mehr vorne sitzen, um alles genau sehen zu können.
Der Backgroundchor "The Voices" machte eine gute Figur, wurde aber weit hinter seinen Möglichkeiten eingesetzt. Da hätte Udo Jürgens dann ein bißchen von seinem Anteil am Abend abgeben müssen, was aber diesmal überhaupt nicht geschah. Im Gegenteil: Von Schonung kann in diesem Programm keine Rede sein; selbst bei dem Filmteil dirigiert er noch, wenn er nicht gerade singen und/oder Klavierspielen mußte.
Über die Verschmelzung von Jürgens' "Flieg mit mir" und Sinatras "Come fly with me" mag jeder denken, was er will. So schlecht wie manche meinen finde ich das nicht. Doch: "The Voices" hätten mehr verdient gehabt. Dazu wäre im Mittelteil von "Ich war noch niemals in New York" Gelegenheit gewesen, die aber ungenutzt blieb; schade. (Ich meine, daß man die Choreografie dieses Stücks nicht jedes mal ganz groß anlegen muß; das passierte seit 1982 schon zu oft zu gut. Aber diesmal war's, 'tschuldigung, einfach mißlungen.)
Lieder der zweiten Hälfte
Die Titel in ihrer Reihenfolge aus dem zweiten Teil (55 Minuten Spielzeit):
- Heute beginnt der Rest Deines Lebens
- Mein Bruder ist ein Maler
("als wir jung waren, haben wir oft die Unterschiede unserer Berufe diskutiert”) - Wenn ein Lied so wär’ wie Du
- Liebe lebt
("sie ist die einzige Antwort auf den Haß”)
Hier setzte dann der beinah schon gesetzmäßige "Bühnensturm” ein. Ganz zivilisiert.
- Alles ist so easy
- Ich war noch niemals in New York
("Da schreibt man mal ein Lied, und viele Jahre später erkennen es die Leute schon an den ersten drei Tönen”. "Dschungelcamp”) - 17 Jahr, blondes Haar / Aber bitte mit Sahne
- Was ich dir sagen will / The music played / Un air sur mon piano
- Ein ehrenwertes Haus
- Zum dritten Mal 25
- Gaby wartet im Park / Ich weiß, was ich will / Mit 66 Jahren
- Am Ufer
Bademantel-Finale
Aus dem zweiten Programmteil seien noch zwei Zitate nachgereicht:
"Das macht Spaß”
"Da geht man endlich wieder auf Tournee und dann erlebt man das mit den Menschen”
Schließlich folgte das unvermeidliche Bademantelfinale (in selbigem), etwa acht Minuten.
- Schenk mir noch eine Stunde
- Cottonfields
- Liebe ohne Leiden
- Vielen Dank für die Blumen
- Merci Chérie
("Bleiben Sie gesund und kommen Sie gut nach Hause!”)
Und so plötzlich wie es begonnen hatte war dann auch schon wieder Schluß. Viel zu schnell – wie jedes mal.
Autogramme gab es diesmal nicht.
Vielen Dank für einen wahnsinnigen Abend und auf Wiedersehen im Herbst 2012.
Mehr Fotos und Eindrücke
Mein kleines Fotoalbum gibt es ➜ hier zu sehen ...
Die erste Textfassung hatte ich auf ➜ udofan.com veröffentlicht, der sich dort weitere Beiträge anschlossen.
Zitate
Kursiv gesetzt sind einige Anmerkungen aus den Zwischenmoderationen oder Textvariationen Udo Jürgens’.
"Wie Udo Jürgens gegen Twitter und Facebook wettert"
Fritz Hein schreibt am folgenden Tag unter dieser Überschrift in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung:
»Udo Jürgens (77) und die sozialen Netzwerke werden wohl keine Freunde: Bei seinem umjubelten Konzert vor 9000 Fans in der König-Pilsener-Arena in Oberhausen teilte die Schlager-Legende ordentlich gegen den zwanghaften Mitteilungswahn in der Netzwelt aus – natürlich auch im Bademantel.
Oberhausen.
Auf ihn warten sie gerne: Ein Fan auf den Rängen der König-Pilsener-Arena in Oberhausen hat sich am Dienstagabend trotz Bibberkälte in einen Bademantel gehüllt. Völlig unnötig eigentlich, denn so lange müssen die 9000 Fans in der gut gefüllten Halle gar nicht ausharren.
Schon wenige Minuten nach 20 Uhr erklingt die Stimme des Mannes aus Klagenfurt. Der Vorhang fällt. Ganz klassisch. Ganz stilvoll. Ganz groß. Den Anhängern wird bei den ersten Melodien schnell warm ums Herz. Ihr Idol zeigte sich dagegen wenige Tage zuvor noch äußerst verschnupft. Eine Grippe hatte den 77-Jährigen aus dem Verkehr gezogen. Vier Konzerte mussten ausfallen. Erst am Sonntag feierte die „Der ganz normale Wahnsinn“-Tour von Udo Jürgens in Köln Premiere.
Breitseite gegen Facebook und Dschungel-Camp
Dabei ist der Titel der Tour nicht falsch zu verstehen. Der Österreicher ist nicht „Onkel Jürgen(s)“. Auch mit Kollegen wie Michael Wendler und Mickie Krause hat die Schlager-Ikone nichts gemein. Udo Jürgens haut mit seinen neueren Songs, die den ersten Teil des Konzertes dominieren, vor allem gesellschaftlichen Trends auf die Finger. Kritik soll schließlich erlaubt sein – und ein bisschen Wartezeit dann doch noch. Jürgens neckt am Klavier: „Wenn ich die alten Songs schon jetzt spiele, hauen Sie in der Pause doch schon ab!“ Die Lacher gehören ihm.
Eine musikalische Breitseite gibt es mit dem Song „Du bist durchschaut“ gegen Daten-CDs, Google, Facebook und Twitter. „Privates, das ist out“, singt er da. Aber auch eine Variante schärfer: „Ganz offenherzig twitterst du. Gibst alles von dir preis. Den größten Mist – den kleinsten Scheiß!“ Überhaupt zeigt sich Jürgens angriffslustig: Auch „Dschungel-Camp“, „Deutschland sucht den Superstars“ und „Big Brother“ bekommen satirische Töne ab. „Superstars, die tun mir leid. Nackte Deppen im Container, weggezappt – schad‘ um die Zeit.“ Eine Schlager-Legende darf das offensichtlich. Applaus in der Halle.
Rotes Kavaliertuch für einen weiblichen Fan
Doch es geht auch gewohnt charmant: Mit dem roten Kavaliertuch aus seiner Jacketttasche beschenkt der Sänger einen weiblichen Fan. Bindet das Orchester von Pepe Lienhard bestens ein. Und überzeugt als klassischer Entertainer. Bei Aufnahmen zum ARD-Zweiteiler „Der Mann mit dem Fagott“, der Udo Jürgens Leben zeigt, spielen Künstler und Orchester passend zu den Bildern, die auf der Videoleinwand erscheinen. Im Ansatz beeindruckend, auf Dauer etwas ermüdend. Durch die Länge der Suite geht dem Konzert kurzzeitig die Puste aus. Doch das ist schnell vergessen. „17 Jahr, blondes Haar“, „Ein ehrenwertes Haus“, „Aber bitte mit Sahne“, „Ich war noch niemals in New York“. Keine weiteren Fragen.
Und am Ende: Kommt der Bademantel
Es ist ein knapp dreistündiger Reigen inklusive Pause. Minuten vor dem Ende des Konzertes erlebt auch der Fan im Bademantel seinen großen Augenblick: Udo Jürgens hat die Kult-Bekleidung ebenfalls angezogen. Es ist der umjubelte Konzert-Moment, der unter keinen Umständen fehlen darf.
Udo Jürgens zeigt sich in Oberhausen nach überstandener Grippe in bester Spiellaune und gut aufgelegt – so sehr, dass man die Fans während der stillen Momente scheinbar summen hört: „Mit 77 Jahren, da fängt das Leben an…“«
➜ Quelle